InWiFo-Infozeitschrift:
Rückenschule heute
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Eine Informationsschrift zur Selbsthilfe bei Beschwerden durch Einengung des Wirbelkanals.
Den Patienten werden die Ursachen ihrer Erkrankung erklärt, damit sie Verständnis für die richtigen Körperhaltungen und Verhaltensweisen haben, die ihnen das Leben erleichtern.
Für die Mediziner und Wissenschaftler finden sich Angaben aus der neueren Literatur zur konservativen Therapie und Prävention der symptomatischen lumbalen Spinalkanalstenose mit einem Verzeichnis der Originalarbeiten, Dissertationen und Buchbeiträge.
Teil 1: Begriffsbestimmungen, Lerninhalte
Die Inhalte sind abgestimmt mit den Empfehlungen der Konföderation der deutschen Rückenschule (K.d.d.R (83)) und dem Leitfaden Prävention der Spitzenverbände der Krankenkassen (82).
1.1 Definition
Unter Rückenschule versteht man ein Haltungs- und Verhaltenstraining zur Vorbeugung von Rückenschäden (Leitlinien (10)). Untrennbar damit verbunden ist eine Verhaltensprävention mit rückengerechter Gestaltung von Arbeitsplätzen, Sitzgelegenheiten und Gebrauchsgegenständen. Eine Neuerung heutiger Rückenschulen besteht darin, dass die biomechanisch begründeten Anleitungen zum rückenfreundlichen Heben und Tragen durch psychosoziale und ganzheitliche bewegungsorientierte Inhalte erweitert sind.
Eine weitere Neuerung betrifft die Zielgruppen: es werden Rückenschulkurse nur für Teilnehmer durchgeführt und finanziert, bei denen ein nachweislicher Erfolg zu erwarten ist.
1.2 Zielgruppen
Zielgruppe der Rückenschule sind Personen mit speziellen Risiken im Bereich der Wirbelsäule. Dazu zählen Menschen mit wiederholt auftretenden Rückenschmerzen. Nach neueren Studien und Übersichtsarbeiten ist die Rückenschule bei chronisch rezidivierenden Rückenschmerzen wirksam (43). Nicht dazu gehören Patenten mit aktuellen behandlungsbedürftigen Rückenerkrankungen. Sie benötigen eine individuelle ärztliche Betreuung.
Eine weitere Zielgruppe betrifft Berufstätige am Arbeitsplatz. In der primären Prävention bei noch nicht vorhandenen aber drohenden Rückenschäden sind Beratung und praktische Anwendungen direkt am Arbeitsplatz erfolgreich.
Im Vordergrund stehen Information und Rückenprotektion durch Verbesserung der Haltungen und Verhältnisse mit ergonomisch optimierten Arbeitsplätzen sowie Hebe- und Tragehilfen. Die Ergebnisse von kontrollierten Studien, die in den Cochrane reviews (43) zusammengefasst wurden, haben gezeigt, dass arbeitsplatzbezogene Rückenschulprogramme wirksam sind. Die Begründung besteht darin, dass gerade die schwer motivierbaren Risikozielgruppen mit Vollzeitbeschäftigung bei schwerer körperlicher Tätigkeit und passivem Lebensstil erreicht werden (24).
1.3 Lerninhalte der Rückenschule
1.3.1 Rückenschulregeln
In der Rückenschule werden Wissen und Praxis zur Vorbeugung von Rückenbeschwerden vermittelt. Der Einfachheit halber und zur besseren Einprägung sind die wesentlichen Aussagen, die sich aus den biomechanischen Belastungsfaktoren ergeben, in Regeln zusammengefasst. Sie werden ergänzt durch Aufforderungen, die sich aus der Prävention psychosozialer Belastungsfaktoren und aus dem ganzheitlichen Bewegungsprogramm ergeben.
Die 10 Regeln der Rückenschule
- Du sollst dich bewegen
- Halte den Rücken gerade
- Gehe beim Bücken in die Hocke
- Hebe keine schweren Gegenstände
- Verteile Lasten und halte sie dicht am Körper
- Halte beim Sitzen den Rücken gerade, stütze den Oberkörper ab und wechsle öfter diese Haltung
- Stehe nicht mit geraden Beinen
- Ziehe beim Liegen die Beine an
- Treibe Sport, am besten Schwimmen, Laufen oder Radfahren
- Trainiere täglich deine Wirbelsäulenmuskeln
1.3.2 Biomechanische Belastungsfaktoren
1.3.2.1 Bewegungsarmut
Da die Bandscheiben des erwachsenen Menschen keine Blutgefäße haben, erfolgt ihre Ernährung durch Diffusion eine Art Durchsaftungsmechanismus in einem sog. osmotischen System.
b) Belastungsdruck unter 80 kg Flüssigkeit und Stoffwechselschlacken werden durch die Bandscheibengrenzen herausgepresst.
Durch Bewegung mit regelmäßigem Wechsel zwischen Be- und Entlastung werden die Diffusionsvorgänge in der Bandscheibe angeregt: Stoffwechselschlacken werden abgegeben, Ernährungsstoffe aufgenommen. Haltungskonstanz, wie langes Sitzen, Stehen oder auch langes Liegen lässt den Flüssigkeitsstrom versiegen. Neuere biomechanische Untersuchungen bestätigen das osmotische System Bandscheibe (11, 12, 13). Diese Erkenntnisse schlagen sich in der Rückenschulregel Nr.1 nieder: "Du sollst Dich bewegen" und in der Empfehlung auch bei Rückenbeschwerden weiter aktiv zu bleiben. Vergleichende Studien haben gezeigt, dass es Patienten mit Kreuz- und Ischiasschmerzen besser geht, wenn sie sich bewegen als wenn sie ruhen (14). Die Rückenschulregel Nr.1 ist wesentliche Grundlage für das ganzheitliche Bewegungsprogramm.
1.3.2.2 Rundrücken
In aufrechter Haltung mit axialer Belastung der Wirbelsäule erhöht sich der Bandscheibeninnendruck (intradiskaler Druck) um ein Mehrfaches insbesondere, wenn eine Verbiegung der Wirbelsäule wie z. B. eine Rundrückenhaltung damit einhergeht. Eine intakte Bandscheibe kann diesen Belastungen ohne weiteres standhalten.
Im Rahmen der frühzeitig einsetzenden Bandscheibendegeneration beim Menschen verliert das Gallertgewebe jedoch seine Festigkeit und neigt zu Verlagerungen und Verschiebungen. Auf Grund pathologisch anatomischer Untersuchungen weiß man, dass alle Menschen zwischen dem 20. und 65. Lebensjahr mehr oder weniger von der degenerativen Lockerung ihres Bandscheibengewebes betroffen sind (7), unabhängig vom Fitness und Gesundheitszustand. Im Alter, etwa ab 65 Jahre, festigt sich der Gallertkern und neigt weniger zu Verlagerungen.
Im mittleren Lebensabschnitt zwischen 30 und 60 Jahren ist das Risiko zur Verlagerung von Bandscheibengewebe besonders groß. Das zentrale mobile Gallertgewebe schiebt sich durch Risse im Bandscheibenring nach außen und tritt in Kontakt mit druckempfindlichen Strukturen, wie z. B. den Ursprungsfasern des Ischiasnerven. Vorwölbungen in der Mitte rufen überraschend den Hexenschussanfall hervor.
a) Heben mit Rundrücken:
Vorderkantenbelastung der Bandscheiben. Der Gallertkern weicht nach hinten aus, wölbt sich vor und drückt auf die Nerven.
b) Heben mit geradem Kreuz:
Gleichmäßige Belastung der Bandscheiben. Der Gallertkern bleibt in der Mitte.
Wesentliche Regeln und Übungen der Rückenschule sind darauf ausgerichtet, das zentrale durch Degeneration gelockerte Bandscheibengewebe an Ort und Stelle zu halten. Wenn die Wirbelsäule belastet wird, etwa beim Bücken, Heben, Tragen, sollte sie gerade gehalten werden, damit es nicht zu den Verschiebungen kommt. Rückenschulregel Nr. 2 lautet: Halte den Rücken gerade, und Nr. 3: Gehe beim Bücken in die Hocke. Auch Regel Nr. 5: Verteile Lasten und halte sie dicht am Körper, soll eine asymmetrische Rumpfbelastung verhindern. Als besonders prolapsprovozierend im Experiment hat sich die Kombination asymmetrische axiale Belastung und Torsion erwiesen. Es handelt sich im täglichen Leben um die Drehbewegung des Rumpfes unter Belastung. Die praktischen Übungen zur Rückenprotektion bestehen darin, dass der Rückenschullehrer richtiges Heben, Tragen und Bücken demonstriert und die einzelnen Übungen von den Rückenschülern nachmachen lässt. Auch das Sitzen mit geradem Rückenmuss geübt werden, dabei sollte man möglichst den Oberkörper abstützen (Regel Nr. 6).
Auch ständige Bewegungen mit regelmäßigem Wechsel der Körperhaltung sind geeignet, den Zwischenwirbelabschnitt im Gleichgewicht zu halten und drohenden Verlagerungen des Gallertkerns entgegen zu wirken. Das ganzheitliche Bewegungsprogramm mit Sport und Gymnastik zielt auf diesen Präventionsmechanismus hin.
1.3.2.3 Hohlkreuz
Nicht alle Rückenbeschwerden gehen von den Bandscheiben aus. Auch eine länger anhaltende Hohlkreuzhaltung kann Rückenschmerzen verursachen. Durch die Gefügelockerungen des Zwischenwirbelabschnitts kommt es indirekt auch zu einer Überbeanspruchung der Wirbelgelenke. Diese kleinen Gelenke im hinteren Anteil des Bewegungssegmentes dirigieren nur die Bandscheibenabläufe, sie sind nicht für die Belastung eingerichtet.
a) Hohlkreuz:
Die Wirbelgelenke (Pfeile) werden ineinandergestaucht; es entstehen Kreuzschmerzen durch Kapselüberdrehung.
b) Gerades Kreuz:
Die Wirbelgelenke und Zwischenwirbellöcher befinden sich in Normalstellung.
Die überdehnten Kapseln der Wirbelgelenke rufen Kreuzschmerzen hervor, die zum Teil auch ins Bein ausstrahlen können. Das Hohlkreuz muss sowohl bei Belastung, also im Stehen und Sitzen, als auch bei Entlastung, d. h. im Liegen, vermieden werden. Antihohlkreuzregeln sind die Regeln Nr. 7 und 8. Im praktischen Teil wird den Rückenschülern beigebracht, wie man sich bei längerem Stehen helfen kann, ohne in die Schmerz auslösende Hohlkreuzhaltung zu verfallen. Die unterschiedlichen Körperhaltungen beim Sitzen, Stehen und Liegen werden geübt. Ständiger Haltungswechsel und vor allem viel Bewegung verhindern die durch Hohlkreuz verursachten Rückenschmerzen.
1.3.2.4 Muskelschwäche
Schwache untrainierte Muskeln haben nicht nur weniger Kraft, sie funktionieren auch schlecht. Bei plötzlicher Beanspruchung springen sie verzögert an und reagieren falsch. Muskelkraft und Koordination sind gleichermaßen gestört. Krafteinwirkungen treffen beim Heben, Tragen, Bücken und bei Rumpfdrehungen auf die relativ ungeschützten Bewegungssegmente der Wirbelsäule und verursachen Rückenschmerzen.
Im muskulär gut geführten und stabilisierten Bewegungssegment der Wirbelsäule sind Verlagerungen von Bandscheibengewebe und Wirbelgelenkverschiebungen weniger leicht möglich. Mit einem kräftigen Muskelkorsett kann man den Rumpf beim Heben und Tragen in einen festen Zylinder verwandeln. Durch Betätigung der Bauchpresse wird die Belastung der Lendenwirbelsäule um ca. 30% gemindert (7).
Beim Muskeltraining kommt es nicht nur auf den Kraftzuwachs sondern auch auf Koordination, Spannungsabbau und auf die Herstellung eines muskulären Gleichgewichts an. Die Muskelpflege mit wahrnehmbaren Fortschritten in Muskelkraft und Koordination steht im Vordergrund der neuen bewegungsorientierten Rückenschulinhalte.
1.3.3 Psychosoziale Belastungsfaktoren
1.3.3.1 Wirbelsäule und Psyche
Neuere wissenschaftliche Studien (14, 28, 65) haben gezeigt, dass psychosoziale Belastungsfaktoren maßgeblich an der Chronifizierung von Rückenschmerzen beteiligt sind und im Präventivprogramm der Rückenschule mit entsprechenden Gegenmaßnahmen berücksichtigt werden müssen. Im Informationsteil der Rückenschule wird den Teilnehmern vermittelt, dass Bewegung, aufrecht dynamische Haltung und Muskelkräftigung zur Pflege eines gesunden Lebensstils gehören.
1.3.3.2 Ängste
Zunächst müssen die Ängste genommen werden. Gewöhnliche Rückenschmerzen sind harmlos und stellen keine Krankheit dar. Einprägsame Redewendungen helfen dabei:
- Rückenschmerzen sind harmlos
- Denk´ positiv
- Vermeide das Krankheitsgefühl
- Du kannst Dir selbst helfen
Die Betroffenen lernen dadurch selbstbewusst und angemessen mit auftretenden Rückenschmerzen umzugehen.
1.3.3.3 Dauerschonhaltung
Auch rückengerechte Schonhaltungen wie gerades, aufrechtes Sitzen oder Liegen mit angewinkelten Beinen sollten nicht zu lange eingenommen werden. Dies widerspricht der Regel ständig in Bewegung zu bleiben. Hinterher treten erneut u.U. stärkere Rückenschmerzen auf. Nur durch ständigen Haltungswechsel kommt es zur gewünschten Balance zwischen Spannung und Entspannung. Beim Sitzen sollte man nicht in der aufrechten Sitzhaltung verharren, sondern immer wechseln nach dem Motto
- wechsle regelmäßig die Sitzposition
- die beste Sitzposition ist deine nächste
- aufrecht sitzen? Nicht immer, aber immer öfter.
Der Übergang von der konstanten Schonhaltung zu ungewohnten Bewegungen und Belastungen unter kontrollierten Bedingungen wird von speziell ausgebildeten Sport- und Gymnastiklehrern durchgeführt. Die Teilnehmer machen die Erfahrung, dass Bewegung und Belastung ihnen nicht schaden, sondern im Gegenteil zur Aufrechterhaltung des gesamten körperlichen Systems notwendig sind und letztlich zur Beseitigung der Rückenschmerzen beitragen. Nach dem Motto
- Bewegung und Belastung schaden nicht
- Rückenschmerzen bei der Arbeit -weiterarbeiten
Bei Rückenschmerzen sollte man keine Dauerschonhaltung einnehmen, sondern seinen gewohnten privaten, beruflichen und sportlichen Aktivitäten (Laufen, Schwimmen, Radfahren) so gut es geht weiter nachgehen, selbstverständlich unter Berücksichtigung der im biomechanischen Teil der Rückenschule erlernten Regeln.
1.3.4 Ganzheitlicher Kursansatz
Ziel aller Präventivmaßnahmen ist die Herstellung einer alltagstauglichen Rückenbelastbarkeit, verbunden mit einer vermehrten Patientenkompetenz und der sich daraus ableitenden verminderten Inanspruchnahme des medizinischen Systems. Erreicht wird das Ziel durch einen ganzheitlich bewegungsorientierten Rückenschulkurs, in dem Biomechanik mit Hebe- und Tragetechniken, psychosoziale Belange und Bewegungsprogramme gleichermaßen berücksichtigt werden. Die erworbenen Kenntnisse können zusammen mit Training und Sport neben den primären Zielen der Verbesserung der Körperkoordination, Gelenkfunktion, Muskelkraft- und Ausdauersteigerung auch zu positiven Verhaltensänderungen führen. Angestrebt wird eine langfristige Bindung an gesundheitssportliche Aktivitäten als alleinige patientengerechte und kostengünstige Maßnahme.
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